Ein Engel, so nah und doch so fern. Ich, Leonie, kann ihn nicht sehen und doch spüre ich ihn. Ganz nah an mir. Ich muss aufpassen, dass ich ihm nicht seine Flügel abbreche, da ich ihn fast berühren kann. Wenn ich mich nur trauen würde, ihn zu berühren. Doch ich lasse es – ich habe Angst. Angst davor, dass ich ihn zerstören könnte. Das darf auf keinem Fall passieren, denn er wird noch gebraucht. Immerhin ist bald Weihnachten und er hat noch sehr viel zu tun.
Wieso eigentlich er? Er ist zwar ein Engel, doch kein Junge. Es ist ein Engelsmädchen, mit dem wundervollen Namen Clara. Sie ist das einzige Engelsmädchen, das es gibt, ansonsten sind Engel immer Jungen. Sie darf sich geehrt fühlen. Ich glaube, das tut sie auch. Auch wenn ich sie nicht sehen kann, weiß ich, dass sie sich riesig freut. Wahrscheinlich freut sie sich wie ein kleines Kind, eben wie ein Engelskind.
Doch wie freut sich ein Engelskind? Habt ihr ein solches schon mal gesehen, oder schon einmal von ihm gehört? Also, ich nicht, und darum müsst ihr jetzt genau zuhören, damit ihr es am Ende all euren Freunden und eurer Familie erzählen könnt.
Es war ein schöner Montagmorgen. Die Sonne schien, und ich machte einen Winterspaziergang. Eigentlich konnte man von einem Winterspaziergang noch gar nicht reden, weil die Sonne schien und noch kein Schnee lag. „Was für ein Winter!“ dachte ich mir. Winter ohne Schnee, na, das konnte ja ein schönes Weihnachtsfest werden. Auf jedem Fall machte ich gerade einen Spaziergang, und wie ich so lief, sah ich auf einem Spielplatz mehrere Kinder. Doch eines der Kinder fiel mir sofort auf, denn es besaß Flügel. Es müsste so 6 oder 7 Jahre alt gewesen sein.
Ich wurde neugierig und ging auf das Kind zu. Es schien keine Angst zu haben, weil es nicht zurück schreckte oder ängstlich reagierte, als ich auf es zulief. Es bemerkte, dass ich es beobachtete, weil es fragte: „Warum beobachtest du mich? Bin ich etwa anders als andere?“
„Ja, das bist du“, antwortete ich. Es schaute mich erstaunt an. „Wieso? Was ist denn so anders an mir?“ Ich wusste nicht, wie ich ihm erklären sollte, was anders an ihm war, denn ich wollte es nicht verletzen oder ähnliches. Also überlegte ich kurz und fing dann an. „Du hast Flügel“, sagte ich. „Ja, ich bin ja auch das Engelskind“, sagte es mit leiser Stimme. Anschließend fügte es noch hinzu: „Mich gibt es nur einmal auf der Welt.“ „Dann bist du ja etwas ganz Besonderes“, sagte ich mit einem Strahlen im Gesicht. „Danke, das tut gut zu wissen, denn das hat noch nie jemand zu mir gesagt“, sagte es, auch mit einem Lächeln im Gesicht. Oder waren es Tränen?
Ich musste genauer in das Gesicht des Engelkindes schauen, um herauszufinden, ob es lächelte oder weinte. Ein paar Tränen kullerten ihm die Wange herunter. Ich gab ihm ein Taschentuch, und da weinte es noch mehr. „Warum weinst du denn jetzt?“, fragte ich. „Ich weine vor Freude. Deine Worte haben mich so tief berührt, sagte es schon wieder mit einem Lächeln im Gesicht. Nun füllten sich meine Augen auch mit Tränen. Das Engelskind nahm mich in seine Arme und fragte mich ebenfalls: “Warum weinst du?“ „Ich weine aus dem gleichem Grund wie du“, sagte ich. „Haben dich meine Worte wohl genau so berührt?“, fragte es. „Ja, haben sie“, antwortete ich.
Ich schaute auf die Uhr und stellte mit Erstaunen fest, dass es schon kurz vor 13:00 Uhr war. „Ich habe noch eine Frage an dich, liebes Engelskind“, sagte ich. „Welche denn?“, fragte es. „Mich würde interessieren, was deine Aufgabe so als Engelskind ist“, sagte ich. „Meine Aufgabe ist es, die Kinder zu beschützen und zu behüten, die keine Eltern oder vielleicht auch gar niemanden mehr haben“, sagte es. „Das ist eine wunderschöne Aufgabe“, antwortete ich. „Es freut mich sehr, dass es dir so gut gefällt, was ich mache“, sagte es. „Ja, ich finde, es ist eine bewundernswerte Aufgabe, weil du ja noch ein Kind bist“, antwortete ich. „Ich finde, das ist gerade das Besondere an dem Ganzen. Ich bin ein Kind und sorge mich um andere, so, als wäre ich ihre Mutter oder ihr Vater“, sagte es. „Und genau das ist es, was ich so faszinierend, so großartig an dir finde“, antwortete ich. „Danke für deine lieben Worte, liebe Frau“, sagte es. „Gern geschehen, und danke für das schöne Gespräch“, antwortete ich. „Kein Problem“, sagte das Engelskind und ging wieder auf den Spielplatz. Immerhin musste es ja die Kinder beschützen und behüten.
Auf dem Heimweg machte ich mir noch viele Gedanken über die Begegnung mit dem Engelskind.
Doch wie erging es in der Zwischenzeit dem Engelsmädchen Clara? Wie immer denke ich, sicher gut. Da ja wie erwähnt bald Weihnachten war, hatte sie noch jede Menge zu tun. Sie packte alle Geschenke ein für die Kinder, die das Engelskind beschützte und behütete. Nach etwa 3 Wochen war sie endgültig mit allem fertig. Zum Glück, dachte sie sich, denn in ein paar Tagen war Weihnachten.
Nun war Weihnachten. Die Kinder, die das Engelskind behütete und beschützte, waren schon total aufgeregt und ungeduldig. Sie konnten es kaum noch erwarten, ihre Geschenke auszupacken. Doch das Engelskind ermahnte sie: „Es geht an Weihnachten nicht nur um die Geschenke, sondern in erster Linie um das Beisammensein und um die Geburt Jesu.“ Die Kinder hörten aufmerksam zu, denn sie fanden es interessant, was ihnen das Engelskind erzählte.
„Ich glaube, ich habe das Christkind gesehen“, rief eines der Kinder. „Echt?“, riefen die anderen im Chor. „Jaaa, ich habe es gesehen, es hatte Flügel.“ „Was? Ein Christkind mit Flügeln?“, rief eines der Kinder. „Ja, ich habe es genau gesehen“, rief das Kind, das es gesehen hatte.
So diskutierten die Kinder noch eine Weile, und nach einer gefühlten Ewigkeit hatte das Engelskind genug davon, und es begann die Kinder aufzuklären, wer das Wesen mit den Flügeln war.
Das Engelskind erklärte ihnen, dass es das Engelsmädchen Clara war, das ihnen ihre Geschenke vorbei gebracht hatte. Mich wunderte es nur, dass das eine Kind es gesehen hatte, denn ich hatte es noch nie sehen können. Aber dafür hätte ich es fast fühlen können, und das ist auch etwas Schönes, da man mit dem Herzen viel intensiver fühlt als mit den Händen.
Die Kinder freuten sich alle über die Geschenke, und Clara war richtig glücklich, dass sie für jedes Kind genau das richtige Geschenk ausgesucht hatte.