Es ist Dienstagspätnachmittag und Lenia geht ein Eis essen. Bei dem Eiscafé angekommen bemerkt sie, dass jemand an dem Tisch sitzt, an dem sie sonst immer sitzt. „Kann ich mich dazu setzen?, fragt sie“. Sie erhält jedoch keine Antwort. Was für eine komische Gestalt, denkt sich Lenia. Also antwortet eine andere Person vom Nebentisch und sie setzt sich. Seltsam was für Leute heutzutage unterwegs sind.
Nachdem Lenia ihr Eis gegessen hat geht sie wieder nach Hause. Selbst als sie sich verabschiedet hat von der Person die ihr gegenüber zu sitzen schien, bekommt sie keine Antwort. Entweder die Person will nicht reden, oder kann es vielleicht auch nicht. Sowas soll es ja auch geben. Immerhin kann Lenia ja auch nicht sehen. Wirklich gar nichts.
Auf jedem Fall erzählt sie ihrer Mitbewohnerin, Marlene von der Person die ihr nicht geantwortet hat. Sie bestätigt, dass er nicht sprechen kann.
„Aber woher weißt du das“?, fragt Lenia erstaunt.
„Ich habe ihn schon öfters gesehen und da ist mir aufgefallen, dass er immer nur seine Lippen bewegt hat. Manchmal konnte man auch an seinem Gesichtsausdruck erkennen, wie es ihm geht“, antwortet sie.
„Das klingt ja interessant. Jetzt frage ich mich allerdings, wie ich mich mit ihm verständigen könnte“, sagt Lenia.
„Das ist eine wirklich gute Frage. Wenn du möchtest, kann ich ihn ja mal von dir erzählen und falls er Interesse hätte, könnten wir ja mal zu viert einen Kaffee trinken gehen“, antwortet sie schmunzelt.
„Ja, das klingt nach einer guten Idee. Jetzt müsstest du mir nur noch verraten, woher du ihn überhaupt kennst. Du hast nämlich noch nie von ihm erzählt“, antwortet Lenia.
„Das liegt daran, dass er der jüngere Bruder von Charlie ist. Ich erlebe ihn immer nur, wenn ich bei Charlie bin oder wenn ich ihn auf der Straße sehe“, antwortet Marlene.
„Ah ok. Ich verstehe. Hatte mich schon gewundert, wie du auf vier Leute kamst. Danke aber, dass du ihn mal fragen wirst“, antwortet Lenia.
„Gerne. Er heißt übrigens Emil“, sagt sie.
„Ok, dann weiß ich schon mal Bescheid“, antwortet Lenia.
Marlene und Lenia studieren beide Sonderpädagogik, deshalb auch die Wohngemeinschaft. Oft kochen sie abends zusammen oder spielen auch mal Mensch ärgere dich nicht. Die Felder sind erhaben, sodass Lenia sie ertasten kann und die Figuren haben unterschiedliche Köpfe z. B. ist rot normal und grün wie eine Spitze. Der Würfel hat auch erhabene Würfelaugen, sodass sie diese ertasten kann.
Charlie ist Marlenes Freund. Die beiden sind unzertrennlich. Wenn sie nicht gerade in der WG ist weiß sie wo Lenia Marlene finden kann. Auch er studiert Sonderpädagogik, wohnt jedoch nur wenige Minuten von der Uni entfernt.
Einige Wochen waren vergangen und Marlene konnte sich etwas mit Emil unterhalten. Sie berichtete Lenia von dem Gespräch. Er sei auf jedem Fall nicht abgeneigt sie näher kennenzulernen, da auch er daran Interessiert wäre, herauszufinden, wie beide sich verständigen könnten.
Also machte Marlene mit ihm einen Termin aus wo sich die vier treffen könnten. Sie trafen sich in einem Café. Im Grunde wusste Lenia nur das über Emil, was Marlene ihr erzählt hatte.
Kurz bevor beide zum Treffen aufbrachen fiel Lenia noch eine wichtige Frage ein.
„Kann Emil mich eigentlich hören“?, fragt Lenia.
„Ja, denn er ist hörstumm. Das bedeutet das er hören kann aber nicht sprechen“, antwortete Marlene.
„Ok, das ist schon mal gut zu wissen“, antwortet Lenia.
Das stimmte wohl denn so konnte sie sich sicher sein, dass diese ganz normal mit ihm reden konnte. Nur mit dem Antworten wäre es halt schwierig. Doch auch hierfür würde Lenia schon eine Lösung einfallen.
Nachdem sie im Café ankamen und bestellt hatten versuchte Lenia Emil zu erklären, wie sie sich das mit dem Verständigen vorgestellt hatte. Zum Beispiel schlug diese vor, dass wenn sie ihn etwas fragte, dass er dann als „ja“ einmal auf den Tisch klopfte und bei „nein“ zweimal. Dies war auch eine Option für „gut“ und „nicht gut“. Emil fand das eine coole Idee die auch wunderbar klappte. Da im Moment ja auch noch Charlie und Marlene dabei waren, konnten sie Lenia wunderbar übersetzen, was er sagen wollte. Doch wenn sie mal alleine waren, würde das etwas schwierig werden.
Fürs erste klappte es jedoch schon echt gut. Sie waren so ungefähr zwei Stunden im Café und Lenia und Emil verabredeten sich erneut.
Auf dem Rückweg erzählte Marlene ihr, dass sie es wohl Emil schon echt angetan hatte, da er sie immer anlächelte. Diese fand es cool und freute sich darüber, wobei sie auch etwas skeptisch war, da sie sich ja erst zwei Stunden kannten.
Doch auch Lenia freute sich Emil wiederzusehen, denn er war ein sehr interessanter Mensch. Durch ihn würde sie ganz neue Erfahrungen machen, die sie so in dieser Art nicht kannte. Bisher war es immer die Stimme durch die sie sich das Bild eines Menschen machen konnte. Nun fiel dieser Punkt weg und Lenia war fixiert auf den Geruch, vielleicht auch auf seine Gangart oder wie er sich anfühlte.
Manche blinde können ja tatsächlich die Leute am Gang erkennen. Bei ihr war das jedoch nicht so, doch vielleicht würde sie dies ja jetzt durch Emil lernen können. Wer weiß?
Es war der besagte Samstagnachmittag und Lenia und Emil gingen etwas spazieren. Die Sonne schien und es war nicht zu kalt und nicht zu warm.
Während dem Spaziergang stellte sie ihm viele Fragen, da es für diese schwierig gewesen wäre, während dem Laufen das Handy bedienen zu müssen. So konnte er ihr durch Händedruck antworten.
Wenn beide gerade nicht das Handy nutzen konnten, verständigten sie sich über Händedruck, ansonsten musste das Handy herhalten und er schrieb ihr das, was er sagen wollte in WhatsApp-Nachrichten. Diese wurden ihr dank der Technik vorgelesen.
Es war ein sehr schöner Spaziergang und sie wollten sich auf jedem Fall wiedersehen. Das stand schon mal fest. Da Marlene sowieso oft bei Charlie war und Emil auch meist dann da war, beschlossen beide, dass Lenia beim nächsten Mal einfach mit Marlene mitkommen würde. Sie müsste dann wahrscheinlich auch dort übernachten, da es ja doof wäre, wenn Marlene Lenia extra wieder in die WG bringen müsste, aber das sollte auch kein Problem sein. Denn immerhin hatte Lenia so den Eindruck, dass Emil etwas für sie empfinden könnte, da er Lenia bei der Verabschiedung vom Spaziergang umarmte und diese auf den Mund küsste. Das war jetzt nicht etwas, was man bei jedem machte. Lenia muss zugeben, dass der Kuss ihr gefallen hat. Er war zart und sanft. Generell war Emil vorsichtig, so als würde er sich um eine Blume kümmern, die jeden Moment abbrechen könnte.
Lenia fand es nett, dass Marlene sie mitnahm, denn es war ja nicht ihre Aufgabe. Doch sie machte es gerne und das sagte sie ihr auch oft.
Die Semesterferien standen bevor und da Emil nur drei Mal die Woche arbeitete, konnte auch Lenia etwas länger bei ihm sein. Sie blieb also von Freitag bis Montag bei ihm. Er arbeitete als Schreibkraft und musste so immer Sachen von einem Band abschreiben. Es machte ihm Spaß und so hatte das auch keinen Einfluss darauf, dass er nicht sprechen konnte. Mit anderen hatte er sowieso fast keinen Kontakt und die, mit denen er Kontakt hatte, kannten ihn ja schon lange.
So konnten Lenia und Emil sich besser kennenlernen was auch echt cool war.
Nach einigen Monaten waren sie ein eingespieltes Team und es klappte super mit der Verständigung. Sie waren glücklich. Ihnen fielen die Einschränkungen des anderen gar nicht mehr auf, weil beide sich daran gewöhnt hatten.
Einige Zeit war vergangen und sie beschlossen eine vierer WG zu gründen. Da die Wohnung von Emil und Charlie groß genug war, zogen Lenia und Marlene bei ihnen ein. Außerdem hatten sie dann einen noch kürzeren Weg zur Uni.
Eines Abends als Emil und Lenia gerade im Garten beim Lagerfeuer saßen, fing sie ein Gespräch an, für welches es keinen besseren Ort gab als diesen. Seine Antworten schrieb er ihr in WhatsApp und sie hörte sie sich über Kopfhörer an.
„Selbst wenn ich weiß, dass ich nie dem wichtigstem für mich lauschen kann, deiner Stimme, bleibe ich an deiner Seite – für immer“.
„Danke meine Liebste, aber wie kommst du darauf“?
„Naja, als ich dich noch nicht kannte, war die Stimme eines Menschen das wichtigste für mich. Doch durch dich hat sich das geändert. Jetzt ist nämlich das wichtigste, wie du mich küsst, mich berührst, mich liebst und mich beschützt“.
„Ach Liebes, du hast so tolle Worte, sodass ich gar nicht weiß, wie ich dir dafür danken kann“.
„Das ist nicht schwer mein Schatz. Liebe mich einfach bis zu deinem Lebensende und es wäre der schönste Dank“.
„Das hatte ich sowieso vor“.
Und dann nahmen sie sich in die Arme und küssten sich.
Auch für Marlene und Charlie war das aufeinander treffen von Lenia und Emil eine spannende Erfahrung. Tatsächlich blieben Lenia und Emil sowie Marlene und Charlie bis zu ihrem Lebensende ein glückliches Paar.